1. Mai 2009

Gedankengaenge - Fragen ueber Fragen

Warum hinterfragen wir alle Ideen, die uns von "den Alten" vorgeschlagen werden?
Warum widersetzen wir uns vorgegebenen Abläufen oder stehen ihnen zumindest skeptisch gegenüber?
Ist das die erlaubte Arroganz der späten Jugend, trotz oder vielleicht gerade wegen der wenigen Erfahrungen zu glauben, alles besser machen zu können? Der unaufhaltsame Drang, die Welt zu verändern? Alles von Grund auf neu und natürlich besser zu erschaffen?
Das ist jetzt keine klassische linke Polemik als Aufruf zum Kampf gegen das Establishment, eher nach der Trotzphase mit 4 Jahren und der Pubertät, eine Art dritte Welle des Widerstandes, eine Quarter-Life-Crisis der Generation Neon ("eigentlich sollten wir erwachsen werden"), die uns allesamt mit 22-27 Jahren befällt.
Aber was nutzt sie uns, wenn sie uns am Ende unzufrieden und ohne eine Veränderung geschafft zurück bleiben?
Da will man die große Welt verändern und sitzt doch in seiner kleinen, oftmals gar elterlich finanzierten Studentenbuden, in seinen kleinen Studentenstädten, im naiven Glauben, allein durch die technisch mögliche totale Vernetzung automatisch zum globalen Weltenbürger zu werden. Man fühlt sich international, wenn man in der schicken Szene-Bar am überteuerten Cocktail mit tropischen Früchten schlürft. Man glaubt, andere Länder zu kennen und folgt doch tausend anderen über die ausgetretenen Pfaden des Lonely Planet Reiseführer.
Am Ende stehen wir da und machen den Fehler uns zu hinterfragen, vielleicht fällt uns dabei noch Adorno ein ("Es gibt kein richtiges Leben im Falschen") und schon taucht sie vor uns auf, die scheinbar globale Unveränderlichkeit der Welt auf, in Stein gemeisselt in den pechschwarzen Monolith aus 2001.
Aus Tatendrang und Freiheit wird Stillstand und Unterordnung.

Doch hier stehen zu bleiben wäre falsch und unserer früheren Vorhaben nicht würdig. Und es gibt ja auch "think global, act local"

(hier geht's irgendwann weiter...)

(PLATZ FÜR EIGENE GEDANKEN GIBTS IN DER KOMMENTARFUNKTION)

Noch ein Rauswerfer:

(...)
Die Zukunft liegt nich darin

Daß man an sie glaubt

Oder nicht an sie glaubt

Sondern darin

Daß man sie vorbereitet

Die Vorbereitungen

bestehen nicht darin daß man

Nicht mehr zurückblickt

Sondern darin

Daß man sich zugibt

Was man sieht beim Zurückblicken

Und mit diesem Bild vor Augen

Auch etwas anderes tut

Als zurückblicken

Erich Fried

28. April 2009

Rundmail 5 - Nachtrag

"Wenn i immer wüsst',
wos ich suach,
wenn i wos suach,
dann würd' i selten wos findn"

Josef Hader, Silentium [1]



Liebe Leute,
nach der letzten Mail und einem Wochenende voller Nebel und Regen kam doch tatsächlich am Montag wie auf Bestellung die Sonne heraus und Tromsø präsentierte sich von seiner schönsten Seite mit strahlend blauem und wolkenfreien Himmel, ein Hauch von Sommer bei sich dank persönlicher Akklimatisierung sogar warm anfühlenden 4 Grad.
Mit den Wolken ist nun auch nahezu jeglicher schlechter Gedanke der letzten Wochen verflogen, und Dinge wie große Abendessen in der WG-Küche mit (fast) allen Mitbewohnern, Julia der PJ-Kollegin und Klaus als Überraschungsbesuch tragen dazu bei, dass es auch so bleibt.
Sogar mein Verhältnis zur zuvor arg geschmähten Klinik beginnt sich dank zweier Besuche im OP zu wandeln. Es war wohl eine Suche ohne klaren Auftrag, aber mit einem umso deutlicheren Ergebnis: Operationen sind hochspannend, als Chirurg rumzuhantieren ziemlich toll und man lernt in der Praxis einfach am Besten.
Keine Angst, ich werde nicht das Lager wechseln, auch wenn man als Chirurg schon ganz anders durch die Klinik läuft (für Internisten: siehe "Das Krankenhaus als Chirurg betreten" [2]).

Fazit: ich fühle mich hier oben angekommen und lerne, jeden Moment zu genießen; auch wenn das Wetter heute wieder schlechter ist, spaziere ich pfeifend und mit Musik im Ohr (aktuell: Seu Jorge, [3]) durch die Pfützen der vom Schnee bröckelig gewordenen Straßenund merke, was für ein Luxus es doch ist, einfach mal für fünf Monate in einen anderen Natur- und Kultur-Kreis eintauchen zu können.

Mit diesen positiven Neuigkeiten aus dem hohen Norden wünsche ich ein schönes verlängertes Wochenende,
allen Prüflingen ein gutes Durchhalten,
allen, die's überstanden haben, schöne Feiern,

liebe Grüße,

Philipp


PS: Vielen Dank für die vielen Wünsche und Grüße, ich habe mich über jeden einzelnen sehr gefreut!

23. April 2009

Rundmail 4 - Gesundheit im System

''Das war knapp!'' sagte der Gastrochirurg nach der Operation zur Schwester.
''Was meinen Sie damit?'' fragte sie verwundert.
''Einen Zentimeter weiter - und ich wäre aus meinem Fachgebiet rausgewesen!''

++ Achtung, diesmal etwas textlastig ++

Liebe Leute,

Ostern ist vorbei, der "Arbeitsalltag" hat mich wieder und nach einigen recht motivierenden Erlebnissen letzte und diese Woche will ich mir wieder ein bisschen die Gedanken von der Seele schreiben, ein zwar nicht hinreichend aber wenigstens zur zeitlichen Überbrückung ausreichender Ersatz für echte Gespräche, vielleicht wie die vielen Briefwechsel vergangener Generationen.
Da viele Leser gerade völlig andere Dinge im Kopf haben, so sei dies als Rezension eines möglichen späteren Arbeitsplatzes zu sehen...

Denn die ersten Wochen waren ehrlich gesagt mehrheitlich irgendwie ernüchternd, hauptsächlich durch die Dank Unterschätzung des Norwegischen nahezu unüberbrückbare Sprachbarriere und die damit verbundene Verständnislosigkeit, die den anfangs motivierten Studenten direkt in den Status mindestens der ersten Famulatur zurückversetzt, wo man auch nichts verstanden hat, wenn auch damals aus anderen Gründen. Unterschiedliche Ursache, gleicher Effekt: man will mitdenken und endet als frustrierter Statist ohne Funktion.

Dazu kam eine neu zu entdeckende Einsamkeit, ist scheint eine weitaus härtere Umstellung, nach drei wunderschönen Wochen voller positiver Erlebnisse mit einem geliebten Menschen in einem fremden Land plötzlich wieder allein zu sein als direkt allein in dieses Land zu kommen. Obwohl immer noch viel Neues zu erleben gilt, werden die ersten Wochen durch eine nicht schwächer werden wollende Sehnsucht überlagert, die gleich einer Milchglasscheibe den Blick auf die Welt zu dämpfen vermag. Erst aus der Souveränität im Umgang mit der neuen räumlichen Distanz entwickelt sich langsam wieder ein normaler Alltag und zumindest dieser Anteil Frust beginnt sich zu legen.

Natürlich könnte man versuchen, diesen Frust zu kompensieren, indem man sich wenigstens um Patienten kümmert, aber halt: wie? Schon gleangt man zum zweiten Frustrationsfaktor: ist es einmal nach diverser Warterei/Schreibkram/
Besprechungen (s.u.) tatsächlich soweit, ich stehe vor einem Patienten und will ihn untersuchen - es heißt ja auch praktisches Jahr und diese Praxis war doch einer der Hauptgründe für dieses mords Studium - klappt das natürlich nur unter der für das Arzt-Patienten-Verhältnis nicht sehr zuträglichen Situation des kaum Kommunizieren könnens. Erneut endet man als frustrierter Zuseher oder unwürdiger verlängerter Arm des übersetzenden Arztes.

Die Patienten scheinen in der Klinik eher die Minderheit darzustellen. Aber fangen wir von vorne an. Ich muss zur liebreizenden Uhrzeit 7:30h dort sein, denn dann beginnt die Morgenbesprechung (viiiel Kaffee) mit allen ca. 15-21 Ärzten der Gastrochirurgie (eine Station!). Dort werden sehr ausführlich die Aufnahmen der letzten Nacht bzw. des Wochenendes besprochen und wahrscheinlich ein bisschen über Gott und die Welt diskutiert, es dauert jedenfalls mindestens 30-45min, leider meistens ohne CT- oder Röntgenbildern, wahrscheinlich gibt's dafür irgendwo eine geheime Extra-Sitzung.
Um 8:30 beginnt die Prä-Visite -- viiiiel Kaffee -- in der nacheinander die drei Visitengruppen abgearbeitet werden, kreativ nach rot-grün-blau benannt (Grüße an alle Informatiker). Diese Gruppen bestehen jeweils aus 1 Oberarzt, 2 Assistenzärzten, 1-2 Turnusärzten (~AiP), 1-2 Studenten, 1 Oberschwester, 3-6 Schwestern macht ca. 6-10 Weißkittel, die sich um entspannte 10-15 Patienten kümmern dürfen.
Die operierenden Ärzte, also alle Oberärzte, setzen sich spätestens hier in den OP ab.
Um 9:30 wird die Prä-Visite in unterschiedlichen Zimmern fortgesetzt (viiiel Kaffee). Um 10:00 geht man über die Zimmer, redet ein bisschen über Gott und die Welt, ab und zu wird auf einen Bauch/eine Wunde/einen Katheter geschaut, dann is schon 11:00. Also Zeit für Mittagspause.

Die Cafeteria ist sehr schön, Blick über die Fjorde usw. aber auch mächtig teuer. Das günstigste ist ein einzelnes Wienerle, wiener pølse (1,7 €, mit Brot 2,30€), viele belegte Brötchen (um 4,50€), Salat nach Gewicht (100g ca. 2,30€) und warme Hauptmalzeit auch nach Gewicht (100g ca. 1,90€, was bei einem kleinen Stück Fleisch plus Gemüse auf 5€ hochkommt). Der Norweger kennt das, und schlau wie er ist, erlaubt er sich erneut einen workaround und bringt meistens sein Essen selbst mit, die matpakke.

Gegen 12h ist man dann wieder auf Station und hat sich gemeinsam mit den 2-3 Turnusärzten (AiPs) und Medizinstudis um die ca. 1-4 geplanten Aufnahmen zu kümmern. Dabei ist das größte Problem, einen freien Raum zu kriegen, weswegen man schon mal 1-2 Stunden im Arztzimmer sitzt, bis "ein Raum frei wird".
Die Untersuchung selbst ist für den Innere-Medizin-Verwöhnten sagen wir mal "übersichtlich" und inklusive ausführlicher Anamnese in 10min erledigt. Ja, und dann is Schluss. Dann geht's durch den Schneesturm nach Hause zum Arbeiten, Lernen, Lesen, Filme schauen, Schnee beobachten...

Das klingt jetzt etwas gefrustet, ist es wahrscheinlich auch, vor allem nachdem die letzten drei Erlebnisse (Zürich, Kinderklinik Erlangen und Nephrologie Nürnberg) ausnahmslos positiv belegt waren. Inzwischen versuche ich die Zeit nach anfänglicher Blockade so sinnvoll wie möglich zu nutzen, d.h. in freien Momenten, von denen es bisher recht viele gibt, Krankheitsbilder durchzuarbeiten oder in meinem Chirurgiebuch zu lesen etc. Wenigstens fühle ich mich in meiner Wahl eines nicht-chirurgischen Faches bestätigt.

Ich gehe auch davon aus, dass es besser wird, wenn ich durch Überwindung der Sprachbarriere auch einmal selbständig zu lösende Aufgaben bekomme. Diese nicht oder zumindest bedingt selbstverschuldete Unmündigkeit ist echt nervig.

Jetzt hätte ich am Ende fast das motivierende Erlebnis vergessen, dass mich zum schreiben dieser nun überwiegend frustlastigen Mail bewegt hat. Damit also kein falscher Eindruck entsteht, schließe ich mit einem der doch auch vorhandenen positiven Momente:

letzte Woche waren ich mit einer Turnusärztin bei einer Aufnahme dabei, ungefähr die Dritte überhaupt hier in Tromsö. Ich konnte den netten älteren (82y) Herrn untersuchen und beim anschließenden Anamnese-Gespräch habe ich zwar nicht viel verstanden und konnte vor allem noch viel weniger zum Gespräch beitragen, konnte aber plötzlich trotzdem spüren, wie in mir dieses deutliche empathische Teilhaben-Gefühl auftauchte, dieser schwer zu beschreibende Moment des intensiven sich auf den Gegenüber einstellen, seine Ängste, seine Sorgen und seine Hoffnungen mit zu spüren und irgendwie bei ihm zu sein. Schlicht genau dieses Gefühl, dass den Sinn des Arzt seins immer wieder neu spüren lässt.

Morgen gehe ich endlich mal in den OP mit, mal schauen was da so los ist...

Die Freizeitaktivitäten haben sich in den letzten zwei Wochen auch deutlich gewandelt: vorher war noch Wandern durch wunderschöne Schneelandschaften und Grillen bei Klaus am Fjord angesagt , dann konnte ich eine komplette Woche voller Schneestürme erleben, vor allem bei dem morgentlichen Weg zum Bus ein richtiger Motivator und von den Norwegern beindruckend unbeeindruckt hingenommen, und seit 3 Tagen sind wir hier voll im April-Wetter mit zehn-minütlichen Wechseln zwischen Sonenschein (kurz) und Nebel/Regen/Schneeregen (leider lang). Wenn man die Sonne jedoch sieht, bleibt sie immer länger...

Der Rest ist skype...

Liebe Grüße,

Philipp

PS: An alle Geplagten weiterhin gutes Durchhalten, nicht mehr lang, dann ist's geschafft!

1. April 2009

Rundmail 3 - Take the polar bear danger seriously

Be well prepared!
To avoid confrontations it is important to be well prepared and to have thought through in adavance how to act in the wilderness of Svalbard:
  • Always be alert. Be aware of your surroundings, and keep to open areas
  • If you see a polar bear, retreat calmly and slowly. Never follow it!
  • Most polar bear visits occur when camp has been established. If you are in a group, sit facing different directions so that you have a good view of the surroundings
  • Avoid placing campsites along the coast. The water and ice edges are natural places for polar bears to search for food.
  • Use trip-wires with flares around the camp
  • Place food well away from the tent, but within view from the tent opening
  • Never prepare warm food in the tent. Polar bears are attracted to food odours.
  • Be correctly armed at all times. Appropriate self-defence weapons against polar bears are big game hunting rifles (caliber 7.62, 30.6 or .308) and in addition a flare gun.
  • Familiarise yourself with the use of thses weapons before moving into the field
Original-Text aus dem Flyer "Take The Polar Bear Danger Seriously", ausgelegt am Flughafen Longyearby



Hey ihr Lieben,

die Zeit vergeht wie im Fluge und schon waren wir für 5 Tage in Longyearbyen [1] auf Spitzbergen (oder "Svalbard", wie es in Norwegen heißt) und sind zurück in Tromsö. Die "Arbeit" für Philipp in der Klinik hat Montag begonnen und Wiebke fliegt Donnerstag gen Heimat. Zeit also, euch für einen Moment teilhaben zu lassen an unseren Erlebnissen im ewigen Eis - 1300 km südlich des Nordpols...

Zunächst einmal: was sind unsere bleibende Eindrücke aus Spitzbergen? KALT! SEHR KALT! VERDAMMT KALT!

Als wir am Sonntag vergangener Woche ankamen ging es noch halbwegs - so um die -14°C zeigte da das Thermometer. Geradezu lau, wie wir feststellen mussten. Dank absolut klarem Himmel sanken die Temperaturen stetig und erreichten in genau der Nacht, die wir uns für eine Übernachtung auf einer Hütte im weißen Nichts entschieden hatten, ihren absoluten Tiefpunkt: -29°C. Ja und dann kann man mal probieren, mit Hilfe eines Kohleofens, irgendetwas auszurichten (Rotwein hilf mehr als zusätzliche Klamotten..)...

Neben dem täglichen Kampf gegen die Kälte verbrachten wir unsere Zeit in Longyearbyen mit der Erkundung zweier beeindruckender Höhlen: Einmal krabbelten wir durch eine Gletschermoräne [2] (und mehr als krabbeln war da wirklich nicht drin - Philipp steckte so manches Mal, natürlich allein aufgrund des Rucksacks, fest...), einmal rutschten wir durch einen Schmelzwasserkanal. Für Geographen einmalige Erlebnisse und auch für Normalsterbliche wirklich phantastische Eindrücke.
Außer den Höhlen erforschten wir die Überbleibsel einer alten Kohlemine und turnten weit über der Stadt durch verlassene Stollen. Überhaupt ist die Kohleförderung neben dem strahlenden Weiß der schneebedeckten Berge auffälliger Kontrast und entscheidend prägend für Longyearbyen. Fotos sagen in dem Fall mehr als tausend Worte und die besondere Stimmung in der 1800 Einwohner fassenden ehemaligen Bergarbeiterstadt kann man eh schwer beschreiben (für Jungs: eine endzeitliche Mischung aus Mad-Max [3, Bild: 4] im Schnee, dem Star Wars Planeten Hoth [5, Bild: 6] und verlassenen Städten aus Half Life 2 [7, Bild 8])

Trotz der Kälte scheint das Leben dort zu pulsieren, überall sieht man Kinder (die bestehenden 4 Kindergärten reichen nicht aus - aktuell befindet sich der fünfte im Bau...) und es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen von Menschen, die zum Langlaufen, Skifahren, Snowboarden, Snow Scooter Fahren (Philipp war auch recht angetan), Eisangeln oder sonstigen Aktivitäten aufbrechen oder zurückkehren. Das alles natürlich immer und ausschließlich in Begleitung einer Waffe - gegen die Eisbären [9] !! Schießen darf man auf die zwar erst aus einer Distanz von 10 - 20 Metern (alles andere wäre "Jagd" und das ist verboten), aber ob man das im Zweifelsfall überhaupt hin bekommt?! Wie auch immer - auch wir waren permanent bewaffnet.

Nun sind wir also zurück in Tromsö und genießen die entspanntenTemperaturen um den Gefrierpunkt.

In Deutschland kommt hoffentlich langsam aber sicher der Frühling!


Bis zur nächsten Rundmail,

Wiebke (verabschiedet sich hiermit, zumindest aus den Tromsö-Rundmails) & Philipp

21. März 2009

Rundmail 2 - Schneeeeee

Schnee, der; -s [mhd. snē, ahd. snēo, altes idg. Wort, vgl. z. B. russ. sneg]
Niederschlag aus kleinen Eiskristallen, meist sternförmig verzweigt.

Schnee fällt bei Temperaturen um 0 °C; es entstehen sechseckige Eisplättchen oder Schneesterne; durch Zusammenschluss zahlreicher Einzelkristalle bilden sich Schneeflocken. Schnee ist ständigen Veränderungen durch klimatische Einflüsse unterworfen.

Unterschieden werden Trockenschneearten und Nassschneearten. Trockenschneearten sind Pulverschnee (nadelartige Kristalle, fällt bei Frost), windgepresster und Mehlschnee (feiner, dichter, abgelagerter Pulverschnee mit zerriebenen Kristallen), Grießschnee (älterer Pulverschnee mit abgeschmolzenen Kristallspitzen), Raureif/Raufrost (bei hoher Luftfeuchtigkeit in flachen Kristallen wachsender fester Niederschlag), Harsch (durch mehrfaches Tauen und Gefrieren entstandener grobkörniger Schnee). Nassschneearten sind Pappschnee (nasser, feinkörniger Schnee), nasser Grießschnee, nasser Raureif und Firn (abgerundete Harschkörner).

Weiterführende Literatur

F. Wilhelm: Schnee- u. Gletscherkunde (1975)
P. u. V. P. Singh: Snow and glacier hydrology (Dordrecht u. a. 2001)


Liebe Leute,

da die Mehrheit der werten Leserschaft deutlich weiter südlich lebt, als wir uns gerade befinden, und daher vielleicht das im Folgende beschriebene Phänomen nicht so genau kennt, beginnt diese zweite Rundmail mit einer schnöden Begriffsdefinition. Vielleicht auch, um etwas von dem Gefühl zu vermitteln, dass uns die letzten Tage erfüllte, denn auch wir konnten, durften, oder gar mussten den Begriff "Schnee" hier neu definieren. Vielleicht fehlt auch in obigem Text, entnommen aus dem renommierten Meyers Lexikon [1], die Spezifizierung "Troms Schnee" oder "Schnee in Nordnorwegen":

Troms Schnee, der; -s; Unmengen von weißer Masse, die sich überall ansammelt.
Schnee fällt fast immer und in Massen, es entstehen riesige Schneehaufen bis 4m neben der Straße und im Besonderen an Straßenecken; durch Zusammenschluss von Millionen Schneeflocken Verlust der sog. Fernsicht, ebenso geschlossene Schneedecke auf allen geologischen und anthropogenen Bodenformen.
Unterschieden werden viel Schneefall (keine Sicht), mittelviel Schneefall (kaum Sicht) und normaler Schneefall (etwas Sicht). Erstaunlicherweise hat diese Klassifizierung keinerlei Einfluss auf die Alltagsgestaltung des Nordnorwegers.

Siehe auch:
-, der auf Zedern fällt; Fräulein Smillas Gespür für -; -flöckchen Weißröckchen; Snow (us-am. HipHop-Künstler, siehe [2]),


Das vergangene Wochenende konnten wir bei Klaus und Kristin auf ihrem wunderschönen Bauernhof in Tonsasen [3] mit traditionell norwegischen Dingen wie Snowboarden (siehe Bild 1, Hinweg), Schafe hüten sowie Schafmaniküre (siehe Bild 2), Kochen und Bier trinken verbringen. Das Leben auf diesem Bauernhof, wobei "Bauernhof" fast etwas übertrieben ist für ein tolles Holzhaus mit einem kleinen Stall und Wiesen direkt am Fjord mit Blick auf die umliegenden Berge ist (siehe Bild 3, Stall und Fjord), also das Leben in dieser Idylle ist unserem ersten Eindruck nach mit seiner Kombination aus "think global, act local" eine der möglichen nahezu perfekten Lebensentwürfe der heutigen Welt.

Fast ungern verließen wir am folgenden Montag Tonsasen mit der glorreichen Idee, die 12km zur nächsten Bushaltestelle zu Fuß zu gehen. Bei diesem Gewaltmarsch ging es dann los, das weiße Chaos. Natürlich mit angemessener Dramaturgie, also zuerst ein paar harmlose Windböhen, die sich zu einem kontinuierlichen Stürmen weiter entwickelten, so dass mit dem später einsetzenden Nieselregen das "Wandern" gar nicht mal mehr so spaßig wurde. Dafür wurde unsere Quälerei mit eindrucksvollem Lichtspiel der Fjord-Landschaft belohnt. Den uns bei inzwischen einsetzendem Schneetreiben entgegenkommenden Jogger (mit Leuchtweste!) versuchten wir zu ignorieren und freuten uns minütlich mehr über die Erfindung von Gore-Tex [4,5] (siehe Bild 4, Ausgestattet im Wind)

Unsere diverse sog. Funktionskleidung musste seitdem einen Härtetest nach dem anderen durchstehen, denn bisher hat es nicht mehr aufgehört zu schneien (siehe Bild 5, vor dem Wohnheim). Die Schneedecke über dem Asphalt (wir vermuten zumindest, dass sich darunter Asphalt befindet) wird immer dicker (siehe Bild 7, auf einer Hauptstraße), die Schneehaufen immer höher und das Piepen der Schneeräumemaschinen vom benachbarten Flughafen nehmen wir schon nicht mehr wahr.

Unsere Lösung: wir flüchten uns in Museen, füttern dort ausgestopfte Hunde mit Schokolade (siehe Bild 8), fesseln freche Frauen in Kirchen (sic! Bild 9) und bauen behagliche Schneehöhlen (siehe Bild 6, Wiebke übt das Verstecken vor Eisbären für Spitzbergen)

So, jetzt müssen wir für Spitzbergen packen, schließlich erwarten uns dort morgen entspannte -17°C [6] und wir müssen noch ausprobieren, wie viele lange Unterhosen man übereinander ziehen kann.

Wir hoffen, Euch geht es allen gut und Ihr genießt den aufkeimenden Frühling (Neid? Eigentlich nicht!),

liebe Grüße aus dem Norden,

Wiebke und Philipp

12. März 2009

Rundmail 1 - Ankommen, Staunen

Norge, Norge,
Blauend empor aus dem graugrünen Meer,
Inseln ringsum gleich Vogeljungen,
Fjorde in Zungen

Dorthin, wo Stille sich breitet umher.
Ströme, Täler;
Felsen begleiten sie; Waldgipfel fern
Ragen dahinter. Wo Tore sie brechen,
Seen und Flächen,
Feiertagsfrieden und Tempel des Herrn.

Norge, Norge,
Hütten und Häuser und keine Burgen,
Hart oder weich,
Du bist unser, bist unser Reich,


Bjørnstjerne Bjørnson


Liebe Leute,

wir sind in Tromsö. rund 350km nördlich des Polarkreises. Nachdem wir Montag mitten in der Nacht gelandet waren und von der Umgebung nicht viel mitbekamen, war das Erstaunen beim Erwachen am nächsten Tag umso größer: wir sind auf einer Insel und um uns herum sind lauter schneebedeckte Berge.

Eine wirklich eindrucksvolle Kombination. Und Schnee hat Tromsö auch zur Genüge, zwar laut Kristin, die uns gemeinsam mit Klaus vom Flughafen abgeholt hatte, dieses Jahr "noch nicht so viel", aber für Straßen mit nahezu ausschließlich geschlossener Schnee/Eisdecke und Schneeberge um die zwei Meter am Wegesrand genügt es wohl.

Die Norweger nehmens mit einem Schulterzucken hin und wir stacksen wie Ballett-Tänzer über die meist nicht geräumten Gehsteige, wobei Räumen wahrscheinlich auch eine reine Sisyphos-Arbeit ist, wenn's am nächsten Tag wieder zugeschneit oder neu vereist ist und deswegen lassen sie's gleich ganz und kaufen sich Spikes zum an die Schuhe klemmen. Der Informatiker nennt sowas wohl workaround.

Das alles ist auch nur Nebensache und wird von der allgegenwärtigen unglaublichen Panorama-Rundumsicht relativiert, die sich in ihrer Direktheit gar nicht in Bildern fassen lässt. Hinzu kommt das vielfältige Farbspiel der Sonne, die nie richtig hochsteigt, sondern immer flach über den Bergen bleibt und einen eigenartigen bläulichen Schimmer mit sich trägt, der die Landschaft in dieses typische nordische Licht taucht.

Soviel zum Rumphilosophieren, nun schnell noch ein paar schnöde Fakten: wir wohnen in Mortensnes (GMaps), einem kleinen Stadtteil abseits des Stadtkernes nahe des Flughafens, in einer (Studenten-)Wohnsiedlung aus lauter dunkelrot lakierten Holzhäusern mit weißen Fensterrahmen; das Zimmer wirkt dank sehr viel Stauraum und großem Schrank für seine 12,5m² deutlich größer, es gibt Schreibtisch, Bett, Tisch, zwei Stühle, also alles was der lernwillige Student so braucht. Unbezahlbar (wie eigentlich alles hier oben) ist der Blick aus dem Fenster (siehe Ausführungen oben), die große Gemeinschaftsküche für die Acht Gangbewohner und das extra Abstellzimmer für Sportgeräte.

In die Stadt läuft man von hier in straffen 50min, dafür gibt's auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen großen Supermarkt und Hardware-Store (der von Auto- über Fahrrad- über Schiffs- über Wander- über Computer- alles erdenkliche an -Zubehör hat) und eine Bushaltestelle in 5min Reichweite. Die Uni, eine sehr moderne Campus-Universtität mit etwas abgefahrenen Fachbereichen wie "Master of Science in Fisheries and Aquaculture Management and Economics" und Rentierzucht aber eben auch Norwegen-typisch pazifistischen internationalen Dingen wie "Master in Human Rights Practice", liegt auch in guter Reichweite.

Zu viel mehr sind wir noch nicht gekommen, dafür konnten wir heute in Ruhe zum ersten Mal das Norwegische Bier von der direkt in Tromsö ansässigen Mack-Brauerei ausprobieren, die 1887 von dem aus Bayern (wo sonst) stammenden Ludwig Mack gegründet wurde und mit bayerischem Hopfen (kein Scherz) nach deutschem Reinheitsgebot braut. Im Gegensatz zu gestern haben wir es geschafft, vor 18 Uhr im Supermarkt zu sein - bevor sich die Vorhänge vor den Alkohol enthaltenden Kühlregalen schließen, wie es die königliche Anordnung gebietet.

Ansonsten bereiten wir uns auf unsere Expedition richtung Nordpol nach Spitzbergen vor, nach einem Ausflug ins Polaria wissen wir nicht nur, wie man sich vor Eisbären schütz (gar nicht), sondern auch wie man einen Eisbrecher lenkt.

Falls wir lebend aus dem Ewigen Eis zurückkehren sollten, melden wir uns wieder,
bis dahin liebe Grüße aus dem Paris des Nordens... (also halt ohne Eiffelturm, aber dafür viel mehr Schnee),

Wiebke und Philipp


PS1: Scheiße kalt hier findet Wiebke und manchmal Philipp auch.
PS2: Geht bloß nicht in "Watchmen" - haben je 12 Ocken dafür rausgehauen, pseudo-intellektueller Bullshit.

3. März 2009

Tromsø

Liebe Leute,

ab jetzt berichtet Zeitlupe von Tromsø. Hier finden sich nun nicht nur meine Rundmails, sondern vor allem Fotos, Erlebnisse und andere Eintraege von meinem Leben im hohen Norden.
Kommentare erwuenscht.

Philipp